Persönliche Erklärung zur Abstimmung über die Fortsetzung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan
Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Danyal Bayaz, Anja Hajduk, Dr. Bettina Hoffmann, Dr. Tobias Lindner, Omid Nouripour, Tabea Rößner, Stefan Schmidt, Kordula Schulz-Asche und Daniela Wagner (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zu der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte am NATO-geführten Einsatz Resolute Support für die Ausbildung, Beratung und Unterstützung der afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte in Afghanistan.
Im Jahr 2021 steht Afghanistan vor besonders großen Herausforderungen. Das Land ist schwer gezeichnet
durch die grassierende Covid-19-Pandemie. Die Zahl der Covid-19-Toten soll laut Schätzungen des renommierten Afghan Analysists Network im vergangenen Jahr die Zahl der Menschen, die durch Kampfhandlungen verstorben sind, übertroffen haben. Die Friedensgespräche mit den Taliban gehen nur sehr schleppend voran. Die neue US-Regierung hat die gesamte bisherige Afghanistan-Politik, allen voran die der Trump-Administration auf den Prüfstand gestellt.
Das durch die Trump-Regierung abgeschlossene Friedensabkommen mit den Taliban hat dazu geführt, dass die internationalen Streitkräfte weitestgehend von der Gewalt der Taliban verschont geblieben sind, dafür aber die afghanische Bevölkerung erst recht ins Visier vonGewaltakteuren geraten ist. Die Gewalt gegen die Zivilbevölkerung, Bedienstete des Staates und Sicherheitskräfte ist in fast allen Provinzen des Landes in den vergangenen Monaten deutlich gestiegen. Allein zwischen Oktober und Dezember 2020 hat es laut der Aufsichtsbehörde der US-Regierung für den Wiederaufbau Afghanistans (SIGAR) mehr als 2 500 zivile Opfer von Anschlägen und Kämpfen gegeben. 810 Menschen sind getötet, knapp 1 800 verletzt worden. Neben den Taliban etabliert sich die Terrororganisation Islamischer Staat zunehmend in Afghanistan, eine zunehmende Zahl von Opfern ist auf ihre Anschläge zurückzuführen.
Die afghanische Regierung und Gesellschaft sind weiterhin in besonderem Maße auf internationale Unterstützung angewiesen. Auch eine Unterstützung der afghanischen Sicherheitskräfte ist nach wie vor zwingend notwendig, weil die Auseinandersetzung mit den Taliban und anderen aufständischen Gruppen immer noch hohe Opferzahlen gerade unter ihnen fordert.
Die Position der legitimen afghanischen Regierung wurde bei den Verhandlungen zwischen der Trump-Regierung und den Taliban nicht berücksichtigt; das muss sich im weiteren Verlauf der Verhandlungen ändern. Insbesondere die afghanischen Frauen müssen stärker einbezogen werden. Das kürzlich beschlossene Gesangsverbot für junge Frauen und Mädchen ab dem 12. Lebensjahr ist ein Kniefall vor den Taliban und lässt leider erahnen, wie sich das Land nach Abzug der internationalen Streitkräfte entwickeln könnte. Gegen diese Entwicklungen gilt es auch weiterhin entschieden einzutreten.
Es ist wichtig, dass die Afghaninnen und Afghanen über die zukünftige Entwicklung ihres Landes selbst bestimmen können. Sollten die internationale Gemeinschaft und die Bundeswehr die Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte jetzt abrupt beenden, würde das zweifelsohne zu einer großen Verunsicherung führen, die die langfristige friedvolle Entwicklung des Landes gefährden könnte.
Nichtsdestotrotz muss die Bundesregierung endlich alte Fehler des Afghanistan-Engagements angehen. Dazu zählt vor allem das Verhältnis zur Antiterrorpolitik der USA. In den letzten Jahren haben „night raids“ oder zahlreiche Bombardierungen, bei denen auch Zivilistinnen und Zivilisten ums Leben gekommen sind, sehr stark dazu beigetragen, dass ausländische Streitkräfte an vielerlei Orten die Köpfe und Herzen der Afghaninnen und Afghanen verloren haben. Die Bundesregierung muss sich im Rahmen der NATO und gegenüber den USA dafür einsetzen, dass dieses falsche Vorgehen nicht weiter fortgesetzt wird und auch zukünftig nicht der Kern des amerikanischen Engagements bildet.
Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie zeitnah darlegt, wie die Zukunft ihrer zivilen Hilfsprogramme fortgesetzt und ausgestaltet werden kann. Dies gilt sowohl für den Fall, dass ein Friedenschluss mit den Taliban gelingt als auch für ein Scheitern der Verhandlungen. Verlässliche Zusagen und ein langfristiges Engagement braucht es vor allem im zivilen Bereich – von der Rechtsstaatsförderung bis zur wirtschaftlichen Entwicklung. Schwerpunkt deutscher Entwicklungszusammenarbeit muss es sein, gute Regierungsführung und die Einhaltung der Menschenrechte, insbesondere der Frauenrechte, zu fördern. Gerade für die vielen jungen Menschen in Afghanistan muss Deutschland besonders engagiert bleiben und im Bereich Bildung und bei der Beschäftigungsförderung klare Akzente setzen. Diese Mittel an die Rücknahme von Flüchtlingen zu koppeln, ist eine Erpressungspolitik, die wir zurückweisen.
Der Afghanistan-Einsatz ist der längste und kontroverseste Auslandseinsatz der Bundeswehr, der nicht nur Afghanistan, sondern auch Deutschland geprägt hat. Abertausende Soldatinnen und Soldaten, Polizistinnen und Polizisten, Diplomatinnen und Diplomaten sowie zivile Helferinnen und Helfer haben beim Wiederaufbau mitgeholfen. Ihre Erfahrungen müssen in die wichtige Diskussion, wie die Bundesrepublik sich in Zukunft in Auslandseinsätzen einbringen sollte, einfließen. Die Bundesregierung verweigert sich aber weiterhin einer unabhängigen Evaluierung des deutschen Afghanistan-Engagements. Das ist der Bedeutung dieses Einsatzes völlig unangemessen.
Mit dem Beginn ihres militärischen Engagements hat die internationale Gemeinschaft eine große Verantwortung für die Menschen in Afghanistan übernommen. Dieser Verantwortung wollen wir gerecht werden – im zivilen und, solange notwendig, auch im militärischen Bereich.
Das Bild, das sich ergibt, wenn man nach der Bilanz des Einsatzes fragt, ist vielschichtig. Es geht den Afghaninnen und Afghanen besser als unter der Herrschaft der Taliban. Die Mehrheit der afghanischen Bevölkerung ist zwischen 15 und 29 Jahren alt. Es ist eine junge Generation, die erfahren hat, was es heißt, in einem friedlicheren und freieren Afghanistan zu leben. Ihnen und ihren Hoffnungen schulden wir Beistand. Für uns ist es eine Frage unseres Gewissens, mit einer Zustimmung zum Mandat den Afghaninnen und Afghanen unsere Unterstützung und Solidarität zuzusichern.
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