Medienkompetenz statt Medienpanik

Gleich vorweg: Machen Sie sich keine Sorgen! Wenn Ihre Dreijährige mal eine halbe Stunde auf dem iPad rumdaddelt und sich dabei wahrscheinlich erstaunlich geschickt anstellt, wird sie später nicht automatisch ein übergewichtiger Zappelphilipp. Ein Achtjähriger, der sich bestens mit der Bedienung der Wii auskennt und in der Schule mit einem interaktiven Whiteboard statt mit einer traditionellen Kreidetafel konfrontiert wird, hat keine schlechteren Chancen, das Abitur zu machen. Und eine Halbwüchsige, die stundenlang mit ihren Freunden chattet, ist höchstwahrscheinlich weder „facebooksüchtig“ noch sonstwie gestört.

Lesen gefährdet Ihre Gesundheit

Es ist durchaus richtig, darauf hinzuweisen, dass Medienkonsum auch mit Risiken behaftet ist. Aus den Befunden der bisher vorliegenden Studien jedoch direkte kausale Zusammenhänge wie „Computerspiele und Internetsurfen machen dumm, dick und süchtig“ zu konstruieren, halte ich für unredlich, wenn nicht gar gefährlich. Mir ist bisher nur ein tatsächlich nachweisbarer Fall von unmittelbarer Medienwirkung bekannt: Der „Werther-Effekt“. Nach dem Erscheinen von Goethes Werk gab es eine Selbstmord-Welle unter jungen Menschen, die von der Lektüre offenbar tief beeindruckt waren. Noch heute gilt für Medien die Regel, dass über Suizidfälle nur sehr zurückhaltend berichtet werden soll, da erwiesenermaßen auf Berichte über Selbstmörder fast immer Nachahmertaten folgen. Dabei geht es wohlgemerkt auch um Zeitungsartikel. Man könnte also den Schluss ziehen, dass Lesen die Suizidgefahr erhöht.
Natürlich ist nicht der Medienkonsum das allein ausschlaggebende Kriterium. Weder beim „Werther-Effekt“ noch beim Umgang mit modernen Medien oder beim Surfen im Internet. Noch nicht einmal die Binsenweisheit „Die Dosis macht das Gift“ greift eindeutig. Denn selbst wenn ich die Staatsbibliothek leer lese, tagelang vor dem Fernseher gammele oder Ballerspiele spiele, muss das noch lange keinen negativen Effekt auf mich haben. Genauso wenig wie ein Vollrausch mich gleich zum Alkoholiker macht, werde ich durch ein Online-Rollenspiel gleich abhängig. Im Gegenteil: Beim Vollrausch gehen Gehirnzellen unwiederbringlich kaputt. Beim Spielen trainiert man bestimmte Fähigkeiten und damit Teile des Gehirns. Es heißt, Computerspiele riefen die gleichen Reaktionen im Hirn hervor wie harte Drogen. Dazu muss man wissen, dass auch Schokolade, Fußballspielen und anderes ähnlich wirken. Verliebtsein hat im Gehirn ungefähr den Effekt von Kokain. Halten Sie sich und Ihre Kinder also besser fern von Liebe – denn sie macht süchtig!

Erziehung heißt auch Medienerziehung

Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich empfehle Ihnen kein unkontrolliertes Laissez-faire im Bezug auf das Medienverhalten Ihrer Kinder. Sie würden Ihre Dreijährige wahrscheinlich nicht alleine auf den Spielplatz schicken, also lassen Sie sie nicht alleine auf dem iPad daddeln und auch nicht stundenlang. Tatsächlich sind andere Erfahrungen in diesem Alter wichtiger als der Umgang mit Medien.

Mit der Vogel-Strauß-Taktik, alle Medien rundweg zu ignorieren, werden Sie allerdings auch nicht sehr weit kommen. Ob wir es wollen oder nicht: Kinder kommen im Prinzip von ihrem ersten Lebenstag an mit den verschiedenen Medien in Berührung. In nahezu 100 Prozent aller Haushalte mit Kindern gibt es einen Fernseher, ein Handy und einen Computer, meist mit Internetzugang. Und selbst wenn Sie in einem Erdloch ohne Strom oder ohne Breitbandanschluss im Westerwald wohnten, würden Ihre Kinder früher oder später bei den Nachbarn, im Kindergarten, der Schule oder anderswo mit Fernsehen und dem Internet konfrontiert werden. Die Frage ist, ob wir sie gezielt darauf vorbereiten wollen, damit selbstbestimmt umzugehen, oder ob wir es dem Zufall überlassen. Wenn ich einem Kind schwimmen beibringe, besteht das Risiko, dass es ertrinkt. Wenn ich es ihm nicht beibringe, ist die Gefahr ungleich höher.

Will ich, dass mein Kind das Medium beherrscht oder umgekehrt?

Kinder lernen schnell, wie man Geräte, Programme und Webseiten bedient. Allerdings mangelt es ihnen oft an Grundkenntnissen darüber, wie Medien funktionieren: Dass die Doku-Soap „Frauentausch“ kein Abbild der Realität ist, sondern die Macher durch Schnitt und Betextung das Geschehen dramatisieren und Konflikte inszenieren, um so die Zuschauer in den Bann zu ziehen. Dass in der Wikipedia viele richtige Informationen stehen, aber möglicherweise auch falsche, weil es ein Gemeinschaftsprojekt ist, an dem sich im Prinzip jeder Mensch beteiligen kann. Dass die Google-Suche keine neutralen Suchergebnisse liefert, weil sie aus den vorherigen Suchen etwas über den Nutzer lernt. Ohne dieses Grundverständnis, wird es schwierig, ein kompetenter und selbstbestimmter Teil einer Welt zu sein, in der man zwangsläufig mit Medien zu tun hat.

Deshalb halte ich es mit Jens Haase, Leiter der Berliner Grundschule an der Bäke, in der alle Klassenräume mit Whiteboards statt mit Tafeln ausgestattet sind. Der sagte in einer Talkshow:  „Wir müssen die Schüler auf ihre Zukunft und nicht auf unsere Vergangenheit vorbereiten.“

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