Vorratsdatenspeicherung: 404 Grundrechte not found
Die Große Koalition hat die Vorratsdatenspeicherung durch den Bundestag geboxt. Ganz offenkundig ist sie unbelehrbar. Denn ein deutsches Gesetz und eine EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung sind wegen Grundrechtswidrigkeit bereits vor den höchsten Gerichten gescheitert. Die Grünen im Bundestag haben eine namentliche Abstimmung im Bundestag beantragt, so dass die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland genau sehen können, welche Abgeordnete der Einschränkung ihrer Grundrechte zugestimmt haben und wer dazu Nein sagte.
WIR SAGEN NEIN ZUR ANLASSLOSEN VORRATSSPEICHERUNG
Hinter dem neuen Gesetzesentwurf „Einführung einer Speicherpflicht und einer Höchstspeicherfrist“ verbirgt sich nichts anderes als die anlasslose Massenüberwachung der Telekommunikationsverkehrsdaten aller Menschen in Deutschland. 2010 hat das Bundesverfassungsgericht das Vorgänger-Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung für verfassungswidrig erklärt. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) folgte 2014 mit einem Urteil, das die europäische Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung für ungültig erklärte. Die Gerichte stellten fest, dass eine anlasslose Vorratsspeicherung von personenbezogenen Daten die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger verletzt und unverhältnismäßig ist. Dass die Koalition in der Begründung des Gesetzentwurfes nun auf Ausschnitte des Urteils des Bundesverfassungsgerichts Bezug nimmt, kann die Kernproblematik nicht verbergen: Die Bürgerinnen und Bürger werden in ihren Freiheitsrechten massiv eingeschränkt, da Daten auch nach dem neuen Gesetzentwurf anlasslos gespeichert werden. Das vom Bundesverfassungsgericht zugrunde gelegte Erfordernis der Berücksichtigung anderer Massenspeicherungen im Rahmen einer „Überwachungsgesamtrechnung“ ignoriert die Koalition geflissentlich.
Bundesverfassungsgericht und EuGH hatten argumentiert, die ständige anlasslose Überwachung erzeuge das „diffus bedrohliche Gefühl des Beobachtetseins“, so dass nicht nur das Grundrecht auf Datenschutz beziehungsweise informationelle Selbstbestimmung, sondern auch die Meinungsfreiheit von der Vorratsdatenspeicherung bedroht seien. Auch dem trägt der Gesetzesentwurf nicht Rechnung.
KÜRZERE SPEICHERFRIST ÄNDERT NICHTS
Daran ändert auch eine gegenüber dem letzten Gesetz kürzere Speicherfrist von bis zu zehn Wochen nichts. Die Streubreite des Grundrechtseingriffs bleibt maximal weit. Fast sämtliche Telekommunikationsdaten aller Bürger ohne Anknüpfung an ein vorwerfbares Verhalten sind erfasst.
Die Große Koalition meint gleichwohl damit werben zu können, dass der E-Mail-Verkehr ausgenommen sei. Eine solche Ausnahme läuft aber ins Leere, da der Gesetzentwurf neben SMS und MMS auch die Speicherung „ähnlicher Nachrichten“ vorsieht. Die Koalition lässt die Bevölkerung im Unklaren darüber, welche Kommunikationsformen sie damit meint und ob auch die in ihrer Popularität gegenüber E-Mail stark gewachsenen Messenger-Systeme, Chats oder Foren erfasst sein sollen. Es zeugt von einer gewissen Realitätsferne, wenn die Koalition glaubt, mit der konkreten Ausnahme für E-Mails alle relevanten Kommunikationsformen abgedeckt zu haben.
KEINE DATENSICHERHEIT
Problematisch bleibt auch der Komplex der Datensicherheit. Die Daten sollen durch Maßnahmen „nach dem Stand der Technik“ geschützt werden. Die im Gesetzentwurf aufgezählten Maßnahmen zur Datensicherheit bleiben jedoch insgesamt vage und völlig unzureichend. Was ist beispielsweise das „besonders sichere Verschlüsselungsverfahren“? Wer bestimmt den „Stand der Technik“? Schon die Snowden-Enthüllungen haben vor einiger Zeit gezeigt, dass angemessene Datensicherheit bei Massenspeichern privater TK-Dienstleister kaum zu gewährleisten ist. Fünf Jahre nach dem Diktum des Bundesverfassungsgerichts und der Informationen über die Zugriffe und Begehrlichkeiten der Geheimdienste auf jegliche Telekommunikationsdaten bedarf der Aspekt der Datensicherheit einer neuen Bewertung. Gerade deswegen sollte unseres Erachtens prinzipiell davon abgesehen werden, durch die Sammlung von Datenmassen attraktive Angriffsziele zu schaffen. Dies wird noch deutlicher vor dem Hintergrund der Erkenntnisse über Massenspeicherungen der westlichen Geheimdienste einschließlich des BND wie auch den Plänen der EU zur Speicherung zum Beispiel von Fluggastdaten.
UNZUREICHENDER SCHUTZ VON ÄRZTEN UND ANWÄLTEN
Zusätzlich sind die Berufsgeheimnisträger wie Ärzte oder Rechtsanwälte, die auf die besondere Vertraulichkeit ihrer Daten angewiesen sind, nicht zureichend geschützt. Der Gesetzentwurf leistet erst Schutz auf der Verwertungsebene, indem die gespeicherten Verkehrsdaten der Berufsgeheimnisträger nicht abgerufen werden dürfen. Damit wird verkannt, dass der Schutz bereits auf Erhebungsebene gewährleistet sein muss. Dies ginge nur, wenn die Speicherung der Daten der Berufsgeheimnisträger von vorne herein ausgeschlossen wäre, was aber nach dem Gesetzentwurf nicht der Fall und auch nicht möglich ist. Dass sich die Koalition hierbei ausgerechnet hinter Datenschutzerwägungen versteckt, entbehrt nicht einer gewissen Ironie.
Auch die zuletzt ins Gesetz aufgenommene Evaluationsklausel kann keine der oben genannten Bedenken abmildern. Sie ist zudem die denkbar schwächste Variante einer Evaluation, weil sie keine unabhängige Überprüfung der Folgen der Wiedereinführung ermöglicht.
VERSTECKTE VERSCHÄRFUNGEN
Schließlich versteckt die Bundesregierung noch zwei Verschärfungen im Gesetzesentwurf: einen neuen Straftatbestand Datenhehlerei und die Erweiterung der Funkzellenabfrage. Beides hat mit der Vorratsdatenspeicherung nichts zu tun.
Die abzulehnende Funktion des neuen Datenhehlerei-Paragraphen im Strafgesetzbuch liegt aber nicht nur darin, das Sich-Verschaffen rechtswidrig erlangter Daten unter Strafe zu stellen und damit Personen zu kriminalisieren, die mit Informationen von Whistleblowern zu tun haben. Vielmehr geht es auch um eine Privilegierung staatlicher Stellen, um zum Beispiel den Ankauf von Steuer-CDs zu ermöglichen. Die Gefahr einer Strafverfolgung wegen Datenhehlerei schränkt Journalisten in ihrer Pressefreiheit ein. Die Formulierung im Gesetz gewährleistet keinen ausreichenden Schutz der Medienarbeit, insbesondere von unabhängigen Bloggern oder Whistleblower-Plattformen.
Die allgemein gehaltene Ausweitung der Funkzellenabfrage ist verfassungsrechtlich hoch problematisch. Sie wird statt zu einer Eingrenzung zu einer Ausweitung dieses Massenabfrageinstruments führen.
WIR WERDEN DAS NEUE GESETZ VERFASSUNGSGERICHTLICH ÜBERPRÜFEN LASSEN
All diese gravierenden Bedenken und engen verfassungsrechtlichen Vorgaben lassen es kurios erscheinen, dass vor der Einbringung des Gesetzentwurfs die relevanten Verbände nicht in den Beratungsprozess einbezogen wurden. Auch die Bundesdatenschutzbeauftragte wurde nicht ausreichend eingebunden und konnte deshalb nur innerhalb einer extrem kurzen Frist ihre erneute Ablehnung auch des nun vorliegenden Entwurfs kundtun. Nachdem die letzte Einführung der Vorratsdatenspeicherung erwiesenermaßen praktisch so gut wie keine Auswirkung auf die Aufklärungsquote von Strafverfahren gezeigt hat, sind Gründe für Eile nicht ersichtlich. Der Vorratsdatenspeicherung der Großen Koalition weht, auch nach seiner Verabschiedung nun immer stärker werdender Gegenwind aus allen Richtungen entgegen, mittlerweile selbst aus den eigenen Reihen. Trotz der überschnellen Einbringung des Gesetzes ins parlamentarische Verfahren werden sich die Regierungsfraktionen weiter den kritischen Fragen von Zivilgesellschaft, Verbänden und uns Grünen zur Vorratsdatenspeicherung stellen müssen. Mehrere Verbände haben bereits angekündigt, gegen die erneute Einführung der anlasslosen Massenspeicherung klagen zu wollen. Dazu zählen auch diejenigen mittelständischen Telekommunikationsprovider, für die die Kosten existenzbedrohende Auswirkungen haben werden.
Auch die grüne Bundestagsfraktion wird das neue Gesetz verfassungsgerichtlich überprüfen lassen. Denn wir lehnen die Aushöhlung des Telekommunikationsgeheimnisses und den mit der Vorratsdatenspeicherung einhergehenden Generalverdacht gegen alle Bürgerinnen und Bürger ab.
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